Visualität und Zeit

Organisatoren
DFG-Netzwerk „ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter“
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
13.06.2014 - 14.06.2014
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Von
Anja Rathmann-Lutz, Departement Geschichte, Universität Basel

Nach der Diskussion der Theorien und Praktiken von Zeit, sowie der Frage nach dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit auf den Treffen in Berlin, Göttingen und Wien stand für das Basler Treffen des DFG-Netzwerks „ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter“ das Thema „Visualität und Zeit“ auf dem Programm.

Den Anfang machte UTA KLEINE (Hagen), die ihr Projekt unter dem Titel „Zukunft zwischen Diesseits und Jenseits. Zeitschichtungen und ihre Visualisierung in mittelalterlicher Visionsliteratur“ vorstellte. Dazu klärte sie zunächst den Begriff der visio im Begriffsfeld von oraculum, somnium, insomnium und visum aus Sicht der spätantiken und frühmittelalterlichen Theorie und Exegese sowie der (kunst-)historischen Forschung. Wesentlich sind darunter „geistige Bilder mit Offenbarungscharakter“ zu verstehen, die ein zentrales Element von Prophetie darstellen und die Teilhabe an providentia versinnbildlichen. Zeitlichkeit ist in diesem Zusammenhang als sichtbar-unsichtbare Bewegung (Augustin) und gleichermaßen als „Zugleichbesitz aller Zeiten“ konzipiert. Im Gegensatz zur Historiographie ist die Zwischenzeit zwischen dem Jetzt und der eschatologischen Erfüllung nicht als negative, sondern als positive Typologie gedacht. Durch die gleichzeitigen Zeitschichten wird die Nichtvereinbarkeit von Linearität und Zyklizität des Zeitverlaufs unterlaufen. Entgegen den an den „neuen“ Zeitkonzepten der Frühen Neuzeit und der Moderne entwickelten Modellen kennt die Zukunftskonzeption der visio drei „Zukünfte“: die „diesseitige gegenwärtige Zukunft“, die jenseitige Zukunft und die Ewigkeit. Die Visionsliteratur widmet sich vor allem dem „postmortalen interim“ der diesseitigen, teilweise offenen Zukunft. In diesem Zeit-Raum herrscht eine Handlungsoffenheit, ist Raum für Verhandlungen über die praevisio Gottes. Am Beispiel der visio des Alberich (Einhard) und der visio Wettini konnte Uta Kleine überzeugend die Gültigkeit dieser Konzepte erweisen. In den Texten wird deutlich, dass eine „breite Gegenwart“ gleichzeitig mit einer offenen Zukunft gedacht werden kann; das „visionäre Kontinuum“ als eine Reihung von Chronotopen schließt den göttlichen Ewigkeitsraum ein und hat zugleich direkte Bezüge zur eigenen Gegenwart und den hier verorteten Vorsorgeinstitutionen wie den Gedenkbüchern.

In die Sphäre der verbildlichten Zeitkonzepte führten die Projektvorstellungen von Hanna Vorholt (York) und Delia Kottmann (Paris/Dresden) sowie die Vorträge von Beate Fricke (Berkeley) und Henrike Haug (Berlin/Florenz). HANNA VORHOLT (York) analysierte „Zeitstrukturen in Bildern des Liber Floridus“. Am Beispiel eines Plans der Stadt Jerusalem erläuterte sie, inwiefern es dem Kompilator der Enzyklopädie, Lambert von Saint-Omer, durch Beischriften, das Seitenlayout und den Überlieferungszusammenhang gelang, gegenwartsbezogene Ereignisse (insbesondere die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer und die Gründung des Königreiches Jerusalem) in einen weiteren heilsgeschichtlichen Zusammenhang einzubetten und hierbei den Buchraum als Medium der Vermittlung zu nutzen. Von hier aus schlug sie den Bogen zu einer weiteren – mit der von Lambert verwandten – Jerusalemkarte, die in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts im Kloster Zwiefalten zu einem Passionale hinzugefügt wurde. Vermittels bildimmanenter Bearbeitungsstrategien konnte der Plan in dem neuen Überlieferungszusammenhang – einer illuminierten Sammlung von Heiligenleben und -martyrien, die in der Reihenfolge des Kirchenjahres angeordnet sind – andere Dimensionen der Zeitlichkeit vermitteln. Das Heiligengedenken und der Gedanke der Nachfolge Christi werden hier erfahrbar gemacht, indem Viten und Erinnerungsorte verknüpft und topographisch verortet wurden. Ferner reflektiert die Präsenz der Karte im Passionale die engen Verbindungen, die das Kloster nicht zuletzt durch den Reliquienerwerb zu Jerusalem aufgebaut hatte. Diese Verbindung erhält im selben Passionale in einer weiteren Hinzufügung, die parallel zu dem Jerusalemplan gelesen werden muss, noch deutlicheren Ausdruck: eine synoptische Konkordanz, die vermittels einer Auflistung der Päpste, der Bischöfe von Jerusalem, der Bischöfe von Konstanz und der Äbte von Zwiefalten systematisch einen Bogen zwischen Lokal- und Kirchengeschichte spannt. Hanna Vorholt konnte so nachweisen, wie eine differenzierte geographische und historische Kontinuität konstruiert wurde: zwischen Jerusalem und Zwiefalten, von den Anfängen bis zum zwölften Jahrhundert.

„Romanische[n] Bildprogramme[n] in Kirchenräumen als Ausdruck politischer Stellungnahme innerhalb der Gregorianischen Reform“ widmete sich DELIA KOTTMANN (Paris/Dresden) am Beispiel von Saint-Savin-sur-Gartempe (Vienne). Die Wandmalereien der ehemaligen Benediktinerabteikirche umfassen sowohl die historische wie die zukünftige Zeitebene. Besonders an zwei Bildfeldern des kurz vor 1100 datierten Apokalypsezyklus in der Vorhalle kann dies erläutert werden. Hier sind das Himmlische Jerusalem und das apokalyptische Weib dargestellt, die einen deutlichen Bezug zum zeitgenössischen Geschehen während der Gregorianischen Reform aufweisen. Die Konzepteure des Offenbarungszyklus applizierten wohl den Apokalypsekommentar des Bruno von Segni. Die Apokalypse der Vorhalle Saint-Savins drückt damit nicht nur positive Zukunftserwartung vor der Deutung des Weltuntergangs von Joachim von Fiore aus, sondern auch einen Appell an Gregorianisches Gedankengut, einen Aufruf, für das sacerdotium Stellung zu beziehen. Die endzeitlich-eschatologische Zeit manifestiert sich bildlich in einem Kirchenraum, der visuell sowohl Klerikern als auch Laien zugänglich war: die Rezeption des Raumes in der Zeitdimension der Heilsgeschichte und in Bezug auf die Stellungnahme für die Kirche erfolgte auch durch Pilger – Saint-Savin bildete eine Pilgerstation der via turonensis nach Santiago. Der Offenbarungszyklus Saint-Savins verbildlicht also die Hoffnung für die Christen auf eine bessere Zeit, falls sie der Kirche treu bleiben und sich nicht auf das regnum hin orientieren. In Rückgriff auf die Darstellung des Benedikts von Aniane, den Legenden nach Gründer der Abtei Saint-Savin, wird in der Vergangenheit die Bedeutung der Kirche mittels der Repräsentation von einer für die Kirchengeschichte wichtigen Persönlichkeit ins Bild gesetzt.

In ihrem öffentlichen Abendvortrag „Präsenz durch Absenz“ fokussierte BEATE FRICKE (Berkeley) eine fundamentale Umbruchszeit in der Entwicklung christlicher Bildkonzepte. Am Beispiel eines Reliquienkästchens (auch „Sancta Sanctorum-Pilgerkästchen“, 24x18.4x4cm, Museo Sacro, Vatikan) aus dem 6./7. Jahrhundert zeigte sie, wie die philosophischen Zeitkonzepte Plotins, Augustins und Boethius' zur Verzeitlichung der Seele und ihrer Expansion in Gedächtnis und Erwartung sowie über die Erfahrung der Differenz zum Göttlichen durch Ewigkeit für die Entwicklung genuin christlicher Bildstrategien aufgenommen werden, wo zuvor bestehende Bildformen und Symbole umgedeutet und neu aufgeladen wurden. In den Bildzyklen mit linearer Erzählung sind fortan drei Lesarten einer „Entwicklung mit Bruch“ enthalten: Erinnerung, Geschichte und Vision. Durch die Erfahrungen an den heiligen Stätten wurden lineare Bilderzählungen, die die Reliquien mit Geschichten verbanden, zunehmend bevorzugt. Die Bilder selbst wurden damit zu wichtigen Medien der Kontemplation und der Erinnerung. Insbesondere Visionen, die von den heiligen Stätten berichtet wurden, nahmen so Einfluss auf die Bildfindungen. Die Darstellung Golgathas als historischer Ort und Versprechen auf Wiederkehr wird ins Zentrum gerückt und bezieht sich damit auf Motivvorläufer, die die Abwesenheit Christi betonen; andererseits wird der Betrachter eingeladen, das Vorhandene im Inneren zu berühren und damit die Präsenz des Göttlichen in der „idealen Topographie einer erlösten Welt“ zu erfahren. Die Gestaltung der Außen- und Innenseite des Deckels umfasst drei Zeitschichten (historische Ereignisse, Pilgerschaft, Zukunft), denen man sich gleichsam rückwärts, von der Zukunft her, nähert. Die Strahlen auf der Außenseite des Deckels verweisen darüber hinaus auf Zeitschichten, die nur durch den Betrachter erfahrbar sind. Somit ist die Trinität der Zeiten in der neuen narrativen Linearität und in kleinen Formen der visuellen Kultur der Pilger aufgehoben.

Abschließend gelang es HENRIKE HAUG (Berlin/Florenz) in ihrem Vortrag und dem darauf folgenden Workshop den Blick auf den differenzierten Umgang der Venezianer, Pisaner und Genuesen mit Vergangenheit und dem daraus resultierenden Zeitverständnis hauptsächlich in der Sakralarchitektur zu lenken. Dass dabei wiederum verschiedene Zeitschichten zum Vorschein kommen, zeigte sich schon im ersten Beispiel, den Säulen aus Konstantinopel, bei deren Inszenierung Venedig insbesondere die Fremdheit betonte: stammen die Säulen selbst aus dem 6. Jahrhundert, so verweisen sie auf den biblischen templum Salomonis und zugleich auf die Geschichte ihrer Herkunft als Beute. In direkter Konkurrenz betreiben auch Genua und Pisa im 12. Jahrhundert Geltungspolitik mittels Spolien bzw. Säulen (bzw. im Falle Genuas mit der Erzählung davon). Römisch-imperiale, exemplarisch-alttestamentarische und zeitgenössisch-rechtliche Ansprüche verblenden die Zeitschichten miteinander und durch die künstlerisch höchst anspruchsvolle Nachahmung und Überbietung der antiken Formen wird zudem eine in die Zukunft weisende Deutung möglich. Einen Sonderfall stellen in diesem Kontext die Gebeine von Heiligen dar (Bari: Nikolaus von Myra; Genua: Johannes d. Täufer). Der Körper des Heiligen, der im Gegensatz zu den steinernen Spolien auferstehen wird, wird bewusst wie eine Spolie aus der Vergangenheit „importiert“ und durch Sarkophage wie begleitende Schriften in seiner zeitlichen Spannung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit inszeniert. Am Beispiel des Umgangs mit Spolien wurde also deutlich, wie Architektur bzw. ihre Elemente als Medien der Erinnerung „Zeit zum Verweilen“ überreden können. Auf der einen Seite steht in diesem Prozess die Verschriftlichung zum Beispiel in Translationserzählungen oder Historiographie auf der anderen Seite die Monumentalisierung und Visualisierung, die ein „reenactment“ der Vergangenheit und des Aneignungsprozesses erlauben und gegenwärtige Ansprüche wie Versprechen für die Zukunft verdeutlichen.

Konferenzübersicht:

Uta Kleine (Hagen), Zukunft zwischen Diesseits und Jenseits. Zeitschichtungen und ihre Visualisierung in mittelalterlicher Visionsliteratur

Hanna Vorholt (York), Zeitstrukturen in Bildern des Liber Floridus

Beate Fricke (Berkeley), „Präsenz durch Absenz“, Öffentlicher Vortrag mit Diskussion

Delia Kottmann (Paris/Dresden), Romanische Bildprogramme in Kirchenräumen als Ausdruck politischer Stellungnahme innerhalb der Gregorianischen Reform

Henrike Haug (Berlin/Florenz), Versteinerte Zeit? Die Inszenierung von Vergangenheit in Pisa, Genua und Venedig im Hochmittelalter